Peter Kiesinger vor einem Porträt seines Vaters Kurt Georg als Jura-Student Ende der 20er-Jahre in Berlin. Das Werk schuf der Maler Egbert Lammers. Kiesinger und Lammers kannten sich aus gemeinsamen Zeiten im katholischen Studentenverein Askania. Foto: Fiegel
Der SPD-Vorsitzende Willy Brandt und CDU-Kanzlerkandidat Kurt Georg Kiesinger (rechts) beantworten im Jahr 1966 nach einem Gespräch der Verhandlungsdelegationen ihrer Parteien Fragen über die Möglichkeit einer Großen Koalition. Foto: Wolfgang Weihs/dpa
Pforzheim
Des Kanzlers Filius: Peter Kiesinger aus Ittersbach
  • Andreas Fiegel

Karlsbad-Ittersbach. Ein Besuch bei Peter Kiesinger in Ittersbach. Der 77-Jährige teilt Erinnerungen an Vater Kurt Georg Kiesinger, den Gestalter der ersten Großen Koalition auf Bundesebene.

Er sei, sagt er mit einem Schmunzeln, „als Schwabe ein neutralisierter Badener geworden“. Seit vier Jahrzehnten lebt Peter Kiesinger in Ittersbach. Der Liebe zu seiner späteren Frau Adelheid wegen hatte es den heute 77-Jährigen ins Badische gezogen. Geboren wurde der Rechtsanwalt im April 1942 in Berlin als Sohn von Marie-Luise und Kurt Georg Kiesinger, Jurist, NSDAP-Mitglied und Angehöriger des Reichsaußenministeriums. Damals konnte keiner ahnen, dass Vater Kiesinger zu einem der einflussreichsten Politiker in der Nachkriegsgeschichte aufsteigen würde. Im Gegenteil.

Für Mutter Kiesinger, Sohn Peter und die zwei Jahre ältere Schwerster Viola heißt es vor dem nahenden Zusammenbruch des Dritten Reiches raus aus Berlin. Die Drei finden Zuflucht bei den Großeltern mütterlicherseits in einem kleinen Ort in Mittelfranken. Vater Kiesinger gerät in Gefangenschaft. Insgesamt 18 Monate sitzt er in Internierungslagern in Haft, wird entnazifiziert, zunächst als Mitläufer eingestuft und schließlich 1948 vollständig entlastet. Im September 1946 kehrt Kiesinger heim. Peter Kiesinger erinnert sich auf dem heimischen schwarzen Ledersofa gut an jenen Tag, als es an der Haustür klingelt, er öffnet und einen Mann im abgewetzten Armeemantel sieht, der sagt: „Na, Peterle…!“ Der Bub dreht sich um, rennt zurück ins Haus und ruft aufgeregt: „Oma, da draußen steht ein Mann für dich.“ Es ist eine von vielen Anekdoten, die Peter Kiesinger zu erzählen hat.

1949 zieht die Familie nach Rottenburg am Neckar. Kiesinger senior verdient den Lebensunterhalt als Jura-Repetitor und engagiert sich in der CDU. Im selben Jahr wird er in den Bundestag gewählt. Während der Woche ist er in Bonn. Freitagabends wird er sehnsüchtig daheim erwartet. Sohn Peter hat sich unweit des Wohnhauses an einem Kastanienbaum postiert, wartet auf die Adler-Limousine, um die letzten 100 Meter an der Seite des Vaters mitfahren zu dürfen. Wie war er als Vater? „Schrecklich gutmütig“, antwortet Peter Kiesinger. „Rührend“ seien seine Erziehungsversuche in den Ferien gewesen. „Aber die schlugen regelmäßig fehl“, lacht Peter Kiesinger.

1956 zieht die Familie nach Tübingen. Kiesinger, längst ein Name in der Politik, baute seine Karriere aus. Er gilt als exzellenter Redner, was ihm den respektvollen Spitznamen „König Silberzunge“ einbringt. Mit dem gleichfalls brillant formulierenden Pforzheimer SPD-Bundestagsabgeordneten Fritz Erler liefert er sich packende Debatten. Und Kiesinger strebt nach Höherem.

Zeit als Ministerpräsident

Am 18. Dezember 1958 titelt die „Pforzheimer Zeitung“: „Kiesinger zum Ministerpräsidenten Baden-Württembergs gewählt“. Acht Jahre lang soll Kiesinger Regierungschef bleiben. „Das war die schönste Zeit seines Lebens“, ist der Sohn heute überzeugt. „Er konnte einiges gestalten.“ So gründet Kiesinger die Universitäten Ulm und Konstanz. Auch den Bau einer Abwasserringleitung um den Bodensee habe er initiiert, mit der das Gewässer sauberer werden sollte – und wurde. Hingegen habe er sich vehement gegen Pläne gestemmt – sogar mit dem Rücktritt drohte er –, den Rhein bis zum Bodensee schiffbar zu machen. Zudem habe er sich als Regierungschef den Bestrebungen widersetzt, den Golderbach bei Bebenhausen aufzustauen. „Der Papa war im Grunde seines Herzens schon ein Stück weit ein Grüner“, urteilt Kiesinger.

Die Kanzler-Jahre

Ende 1966 kehrt Kiesinger Stuttgart überraschend den Rücken und in die Bundespolitik zurück. Er setzt sich gegen starke Konkurrenten durch und wird Kanzlerkandidat. „Mutter war eher dagegen, wir Kinder hingegen fanden’s beeindruckend“, erinnert sich Peter Kiesinger. Der CDU-Politiker schmiedet mit der SPD die erste Große Koalition auf Bundesebene und wird am 1. Dezember zum neuen Bundeskanzler gewählt. Peter Kiesinger, mittlerweile 24 Jahre alt, verfolgt von der Tribüne aus fasziniert das Geschehen im Plenarsaal. „Ich war stolz auf Vater.“

Es folgen drei harte Kanzlerjahre, geprägt von Kaolitionsquerelen. Während der Draht zu seinem Außenminister Willy Brandt (SPD) eher von Sprachlosigkeit geprägt gewesen sei, hätten sein Vater und Herbert Wehner, damals Minister für gesamtdeutsche Fragen, gut miteinander können und die GroKo gemanagt. „Das muss man sich mal vorstellen: ein Ex-NSDAPler und ein ehemaliger Kommunist“, wundert sich Peter Kiesinger noch heute über das besondere Verhältnis.

Immer wieder holt Kurt Georg Kiesinger während der Kanzlerschaft seine NSDAP-Vergangenheit ein. Die Schriftsteller Günther Grass und Heinrich Böll fordern gar seinen Rücktritt. Auch in der Familie ist das Thema präsent. „Wir Kinder haben ihn richtig gelöchert“, blickt Peter Kiesinger zurück. „Aber mir ist bis heute nicht klar, wie das geschehen konnte. Wie kann man nur so doof sein?“ Schon 1933 war Kiesinger in die Partei eingetreten. „Er war national angehaucht, aber nicht deutsch-national“, ist sich Sohn Peter sicher. Er, der Vater, habe in vielen Gesprächen die NSDAP-Mitgliedschaft als „absoluten Jugendfehler“ klar erkannt und bedauert. Dass Kiesinger nach 1945 ein überzeugter Demokrat geworden ist, daran lässt der Junior keinen Zweifel aufkommen. „Die Anfeindungen haben ihm zugesetzt“ und eskalieren am 7. November 1968. Die CDU hat sich zum Parteitag in der Berliner Kongresshalle versammelt, als die Journalistin Beate Klarsfeld das Podium besteigt, Kiesinger ohrfeigte und ruft: „Nazi, Nazi, Nazi!“ „Das war mehr als eine Ungehörigkeit – das war unverschämt“, aber, fügt Peter Kiesinger hinzu: „Es hat uns nicht wesentlich erschüttert.“

Die Mitte- bis Ende-60er-Jahre sind bewegte Jahre in Deutschland. Der Kanzler-Sohn studiert zwischenzeitlich – wie der Großvater, die Tante und der Vater – Jura. Zuweilen in Berlin, vorwiegend aber in Tübingen. In Bonn überschlagen sich nach der Bundestagswahl 1969 die Ereignisse. Kiesinger und die CDU verfehlen mit 46,1 Prozent nur knapp die absolute Mehrheit. Die Chance also für die SPD, mit der FDP zu koalieren. Ein politischer Paradigmenwechsel. Kiesingers kurze Ära als Kanzler ist zu Ende. „Daran hat der Vater lange geknabbert“, erinnert sich der Sohn.

Elf Jahre bleibt Kiesinger noch in der Politik. 1972 begründet er im Bundestag den konstruktiven Misstrauensantrag der Unions-Fraktion gegen seinen Kanzler-Nachfolger Willy Brandt. Das Misstrauensvotum scheitert. 1988 stirbt Kurt Georg Kiesinger.

Politische Ambitionen

Peter Kiesinger hat sich derweil als Anwalt etabliert, eröffnet 1980 gemeinsam mit einem Kollegen eine Kanzlei in Karlsruhe. Ein Jahr zuvor tritt er in die CDU ein. Kiesinger ist 37. Warum so spät? „Als Vater noch in Amt und Würden war, wollte ich nicht. Das Sprachrohr von ihm wollte ich nicht sein“, antwortet er. 2016, nach 36 Jahren, verlässt er die Kanzlei, um fortan im eigenen Haus am Rande von Ittersbach Mandanten zu beraten. Noch immer täglich sechs Stunden arbeitet der 1,96 Meter große, schlanke Fachanwalt für Steuerrecht. Auch wenn der 77-Jährige bekundet, es habe ihn „nie gereizt, Karriere in der Politik zu machen“, auf kommunalpolitischer Ebene engagiert er sich umso mehr. Seit nunmehr zwei Jahrzehnten ist der Vater von drei Kindern sowie mittlerweile sechsfache Opa Mitglied im Karlsbader Gemeinderat und seit 2004 Vize-Bürgermeister. „Jetzt haben sie mich noch mal breit geschlagen“, am 26. Mai bei den Kommunalwahlen erneut zu kandidieren. Bei einer Wiederwahl wäre es seine sechste Wahlperiode. Aber danach sei Schluss, beteuert er.

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