In einem Seniorenheim in Bretten-Neibsheim haben sich 66 Mitarbeiter mit dem Coronavirus angesteckt und 137 der rund 180 Bewohner wurden infiziert. 36 Senioren starben bisher in Zusammenhang mit dem Virus. Foto: dpa
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Baden-Württemberg
Die Warnung: 36 Corona-Todesfälle in Altenheim in Bretten - Der Wunsch: Senioren wieder Kontakte ermöglichen
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Bretten/Stuttgart. Das sind Zahlen, die erschrecken: Seit Beginn der Corona-Pandemie hat das baden-württembergische Landesgesundheitsamt (LGA) 160 Covid-19-Ausbrüche in Pflegeheimen verzeichnet, im Enzkreis zum Beispiel in Straubenhardt und Remchingen, in der Nachbarschaft im Kreis Calw zum Beispiel in Schömberg. Am schlimmsten landesweit hat es ein Seniorenheim in Bretten-Neibsheim erschwischt. 66 Mitarbeiter haben sich angesteckt und 137 der rund 180 Bewohner infiziert. 36 Senioren starben bisher in Zusammenhang mit dem Virus.

Alte Menschen sind eine Hochrisikogruppe

Fast 2900 Bewohner und Pfleger hätten sich in Baden-Württemberg bislang angesteckt. Rund 420 Menschen - ausschließlich Bewohner - seien gestorben. Alte Menschen sind eine Hochrisikogruppe bei Corona-Infektionen. Aber rechtfertigt der Schutz vor dem Virus die Besuchsbeschränkungen in Altenheimen? Der Preis für die Bewohner ist hoch. Zu hoch, sagen manche.

Wochenlang haben sie durchgearbeitet und alles gegeben. Clarita Kosel, Pflegedienstleiterin im Altenheim Haus Schönblick in Bretten (Kreis Karlsruhe) ist stolz auf ihre Mitarbeiter, dankbar auch für das Verständnis der Angehörigen und die Hilfe von Freiwilligen. Hinter der Einrichtung im Kraichgau, die vom schwersten Covid-19-Ausbruch in Südwest-Heimen betroffen ist, liegen schlimme und kummervolle Wochen, nicht nur weil es 36 Corona-Todesfälle gab.

Anfangs hatte das Personal nach Worten Kosels kaum Schutzausrüstung, inzwischen gebe es ausreichend. «Die Situation muss nur schlimm genug sein, und plötzlich hat man Unterstützung seitens der Behörden», sagt sie. Es klingt ein wenig bitter.

Pflege- und Altenheime in unverändertem Krisenmodus

Dabei ist der wegen Corona oft einsame Tod der alten Menschen in den Einrichtungen, so schlimm das ist, nur das eine. Das andere sind die für Bewohner und deren Angehörige geltenden Ausgangs- und Besuchsbeschränkungen. Während Läden schrittweise wieder öffnen und Schulen sich allmählich wieder warmlaufen, waren Pflege- und Altenheime in unverändertem Krisenmodus: Angehörige durften bislang nicht rein, Bewohner nicht raus.

Die Folgen sind aus Sicht der Bundesinteressenvertretung für alte und pflegebetroffene Menschen (BIVA) erschütternd. «Uns erreichen verzweifelte Rückmeldungen von Menschen, deren Angehörige in den Pflegeheimen wegen des Kontaktverbots stark abgebaut haben, die abgemagert sind und einen Rollstuhl brauchen, die vereinsamen, Todeswünsche äußern und unter Depressionen leiden», sagt Sprecher David Kröll. Am vergangenen Freitag startete BIVA eine Petition. «Pflegeheimbewohner dürfen nicht länger komplett abgeschottet werden. Besuche von Angehörigen und Betreuern müssen unter Einhaltung von verbindlichen Hygienevorschriften möglich sein», heißt es darin.

Menschen in der Isolation reagieren mit gesundheitlichen Problemen

Auch das baden-württembergische Sozialministerium hat die Dringlichkeit erkannt und die Arbeitsgruppe «Langzeitpflege» ins Leben gerufen. Resultat: Das Besuchsverbot wird ab sofort gelockert. Denn «zunehmend wird aus der Praxis berichtet, dass die Menschen in der Isolation mit Depressionen, Lethargie, Appetitlosigkeit und anderen Symptomen reagieren, die ihrerseits schwere gesundheitliche Schädigungen bis zum Tod zur Folge haben», heißt es in einem Schreiben des Ministeriums an die Einrichtungen vom vergangenen Freitag, das der dpa vorliegt.

Nur wie soll das gehen mit den Lockerungen? Die Handreichungen dazu seien bisher vage, moniert Oliver Deppendorf, der in Karlsruhe die Einrichtung Hanne-Landgraf-Haus leitet. «Es fehlt an Schutzausrüstung und an Tests.» So würden weiterhin etwa Senioren, die aus anderen Gründen im Krankenhaus waren, bei der Rückkehr ins Pflegeheim nicht auf das Virus getestet. Mitarbeiter, deren Partner Kontakt mit einer coronainfizierten Person gehabt hätten, bemühten sich vergeblich um Testung. «So wird das nichts. Dabei wären wir die ersten, die die Tore gerne wieder weit aufmachen würden», bedauert Deppendorf. «Es ist eine traurige Zeit.»

Kleine Kontaktaktionen aus sicherem Abstand

Um die Folgen für die Bewohner abzumildern, behelfen sich die Einrichtungen mit eigenen Aktionen. Von Balkonen aus oder durch gläserne Schiebetüren hindurch wird Kontaktaufnahme mit Angehörigen ermöglicht. Im Hanne-Landgraf-Haus stehen Laptops zur Verfügung, um mit den Familien zu skypen, also Videoanrufe zu tätigen.

In eigenen Grünanlagen oder Innenhöfen werden in kleinen Gruppen Ausgänge ermöglicht. Ehrenamtliche, die derzeit Zutrittsverbot haben, legen wie etwa kürzlich zu Ostern Geschenke vor die Tür oder hängen aufmunternde Transparente in Sichtweite auf. «Ein Ersatz für die Besuche von Angehörigen kann das aber nicht sein», sagt Deppendorf. «Mir fehlen das gemeinsame Frühstück und das Mittagessen», erzählt etwa ein 84 Jahre alter Bewohner eines Stuttgarter Seniorenheims. Frühstück und Abendbrot würden in Tüten an die Türklinke gehängt.

Viele und heftige psychische Folgen

«Die psychischen Folgen, die sozialen Folgen für die Menschen, das kann man nicht nur unter dem Gesichtspunkt von Infektionsschutz sehen», sagt Beatrix Vogt-Wuchter, Leiterin der Abteilung Pflege bei der Diakonie Baden. «Man muss es auch in seiner ethischen Dimension betrachten.» Die Arbeitsgruppe «Langzeitpflege», in der sie mitarbeitet, soll nach Worten des Sozialministeriums weitere Maßgaben erarbeiten. «Der Besuch von Angehörigen muss erlaubt werden, etwa in Außenanlagen», sagt der Vorsitzende des Landesseniorenrats, Uwe Bähr.

Langfristig, so BIVA-Sprecher Kröll, werde man nicht nur sehen, was die zum Schutz der Alten ja durchaus notwendigen Maßnahmen gegen das Virus gebracht hätten - sondern auch, was sie bei den Menschen angerichtet hätten. Viele unterschätzten, wie sehr die derzeit mit Besuchsverbot belegten Angehörigen normalerweise in den Heimen mit anpackten: etwa beim Essen geben, bei der Mobilisierung durch Ausflüge, mit Gesprächen. «Das alles fällt nun weg.» Das böse Erwachen stehe noch bevor, möglicherweise auch in Bezug auf ein juristisches Nachspiel: «wenn die Angehörigen wieder in die Heime kommen dürfen und sehen, wie es ihren Liebsten wirklich geht.»

Evangelischer Landesbischof lobt geplante Lockerung der Besuchsregeln

Der Bischof der Evangelischen Landeskirche in Baden, Jochen Cornelius-Bundschuh, hat die geplante Lockerung der Besuchsregeln in Seniorenheimen als einen Anfang begrüßt. «Aber das kann nur ein erster Schritt sein», sagte er der Deutschen Presse-Agentur am Dienstag in Karlsruhe. Laut einem Schreiben des Sozialministeriums an die Einrichtungen im Südwesten sollen mit Schutzkleidung ausgerüstete nahestehende Personen ihre pflegebedürftigen Angehörigen künftig besuchen können, «wenn anderenfalls körperliche und seelische Schäden durch eine soziale Isolation drohen». Cornelius-Bundschuh will die Neuregelung aber auf alle Bewohner von Seniorenheimen ohne das Kriterium drohender Schäden ausgeweitet wissen. «Das muss für den engsten Kreis, also Ehepartner oder Kinder der Heimbewohner gelten.»

Der Bischof plädierte dafür, dass Verwandte in Schutzkleidung und mit Masken einer hohen Schutzstufe die Bewohner in ihren Zimmern treffen könnten. Dabei dürften die Besucher nicht auf den Kosten für die vom Heim zur Verfügung zu stellende Ausrüstung sitzenbleiben. Durch fehlende Kontakte verschlechtere sich der Gesundheitszustand der alten Herrschaften, sagte Cornelius-Bundschuh. So schreite die Demenz schneller fort, wenn die Betroffenen ohne Ansprache blieben. Der Theologe mahnte: «Wir dürfen den Schutz der Risikogruppe nicht nur technisch sehen. Wir müssen den Menschen in seiner Gesamtheit im Blick haben.»

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